Vom Zauber des Mitgefühls

Vor einigen Tagen las ich einen Leitartikel von Gabor Steingart, dem Herausgeber des Handelsblatts, zur Haltung der westlichen Politik im Konflikt in der Ukraine. Ungewohnt und überraschend stellte Herr Steingart Mitgefühl in den Mittelpunkt seiner Empfehlungen für den Umgang mit diesem Konflikt.

Dabei ist nach meinem Empfinden das Mitgefühl eher in den Katakomben des Sozialen verschwunden. Ob in der Pflege, bei der Kinderbetreuung, in der Betreuung von Arbeitslosen oder Kranken, es geht vorrangig nicht mehr um Mitgefühl, sondern um Fallpauschalen, Dokumentation, Kassenbeiträge, Zeitmanagement – aber Mitgefühl, darüber redet man nicht mehr, das wurde abtrainiert, das haben vielleicht noch einige wenige Unbelehrbare, aber die Masse kennt das Gefühl nicht mehr. Es ist abhanden gekommen.

Kennen Sie noch Mitgefühl?

Oder kennen Sie eher Sätze wie „Bleib mir weg mit deinem sozialen Fimmel.“  „ Das sind die selbst schuld.“ „ Mitleid kriegen die nicht.“ 
Wann haben Sie das letzte Mal mit jemandem mitgefühlt? Wann haben Sie das letzte Mal den Eindruck gehabt, da fühlt jemand mit Ihnen mit?

Dabei ist Mitgefühl der einzige Zugang, den wir zum Gegenüber haben. Mitgefühl, kein Mitleid.
Mitgefühl bedingt eine Begegnung auf Augenhöhe. Da ist der, mit dem man mitfühlt, nicht der Kleinere, Schlechtere, Geringere, Bösere. Mitgefühl verträgt keine Wertung.
Mitgefühl heißt mitfühlen, alle seine Sinne einsetzen, um den Gegenüber zu begreifen, zu hören, zu sehen, zu spüren und zu riechen. Seine Perspektive, seinen Standpunkt zu erfassen und zu erfahren.

Wirkt das im beruflichen Umfeld, bei harten Verhandlungen, beim Konflikt mit Kunden und Kollegen, bei der Projektarbeit mit unmotivierten Beteiligten nicht ein bisschen befremdlich, von Mitgefühl zu sprechen?
Ja, sicherlich. Doch auch dort kann Mitgefühl Berge versetzen – wenn wir unsere Spiegelneuronen trainiert haben. Wenn wir Mitgefühl für die Menschen entwickeln können, die uns täglich umgeben, auch für Kollegen und Kunden. Wenn wir lernen, unserem Gefühl zu trauen und nicht mit Zahlen, Daten, Fakten zu verbrämen. Und wenn wir lernen, zu den Erkenntnissen unseres Gefühls zu stehen und diese in Entscheidungen und Tun umzusetzen.
Der emphatische Mensch kann Kriege verhindern, so  der Appell von Arno Gruen für eine emphatische Gesellschaft und Politik. Warum sollte Empathie nicht auch für unser Projektgelingen hilfreich sein?

Nehmen Sie sich einen ungestörten Moment. Vergegenwärtigen Sie sich beispielsweise eine Situation, die Sie als verfahren, fest und starr empfinden, wo Sie nicht wissen, wie das weiter gehen kann. Stellen Sie sich die Protagonisten vor. Versuchen Sie, Ihre Gegenüber zu sehen, zu hören, vielleicht erinnern Sie noch, wie sie riechen, was Sie gefühlt haben, als Sie sie das erste Mal gesehen haben. Sind sie nach Ihrem Geschmack?
Dann überlegen Sie, wie sich Ihr Gegenüber fühlt in der Situation, was ihn antreibt, welche Motive er für sein Handeln haben mag, welche Bedürfnisse ihm wichtig sind.
Setzen Sie sich für einen Moment auf den Stuhl Ihres Gegenüber, nehmen Sie seine Position ein und blicken Sie aus seiner Warte auf die Situation. Was erleben Sie? Was fühlen Sie?

Mitgefühl ist ein Zaubermittel im menschlichen Miteinander. Der Mensch steht im Vordergrund. Wir können unseren Gegenüber wirklich sehen, ihn verstehen, seine Motive erkennen und ihnen vielleicht sogar folgen. Dazu gehört Mut, vor allem in Konfliktsituationen.

Wenn wir die Welt aus der Sicht eines Anderen sehen können, dann eröffnen sich neue Perspektiven, Abzweigungen für anderes Handeln, das erhöht die möglichen Optionen um mindestens 100 %. Das hilft bei Konflikten, verfahrenen Situationen, misslungener Kommunikation, all das, was wir täglich in unserem Arbeitsalltag vorfinden. Dann sind Kompromisse und Ausgleich von Interessen möglich, im Sinne eines Projektziels, eines Unternehmensziels oder eines ganz persönlichen Ziels. Mit diesem Verständnis werden der Projektfortschrittsplan und die abgehakte To-Do-Liste bedeutungslos. Und Abschlusswahrscheinlichkeiten und Quartalsziele erscheinen wie aus einer anderen Welt.

Schreiben Sie uns über Ihre Erfahrungen mit dem Mitgefühl. Wir sind gespannt auf Ihre Meinung.

Ihre

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Helga Trölenberg